Die Vorherbestimmung (Al-Qadar) ist die sechste Säule des Glaubens im Islam. Sie bedeutet: Allah wusste schon immer alles, hat alles aufschreiben lassen – und trotzdem trägt jeder Mensch die volle Verantwortung für seine Taten.

Die fundamentale Bedeutung von Al-Qadar

Die Tatsache, dass Al-Qadar eine eigene Säule bildet, zeigt bereits seine immense Bedeutung. Schon in der Frühzeit des Islam spalteten sich Sekten ab, die zentrale Aspekte der Vorherbestimmung leugneten – manche bestritten Allahs allumfassendes Wissen, andere machten den Menschen zum Schöpfer seiner eigenen Taten, wieder andere stellten ihn als willenlose Feder im Wind dar.

Die vier Stufen der Vorherbestimmung

Das Konzept von Al-Qadar lässt sich in vier grundlegende Stufen (Marātib) unterteilen:

1. Das Wissen (Al-‚Ilm)

Allah wusste schon immer alles – von Ewigkeit her, bevor Er die Schöpfung erschuf. Sein Wissen umfasst:

  • Was war
  • Was sein wird
  • Was nicht sein wird
  • Und wie es gewesen wäre, wenn es gewesen wäre

Diese letzte Dimension ist besonders wichtig. In Sure 18 findest du die Geschichte von Al-Khidr und dem Jungen: Der Junge wurde getötet, und Allah offenbarte, dass er – hätte er weitergelebt – seine gläubigen Eltern in große Bedrängnis gebracht und möglicherweise sogar in den Unglauben geführt hätte. Hier zeigt sich: Allah weiß nicht nur, was geschieht, sondern auch, was bei einer anderen Wendung geschehen wäre.

Im Koran heißt es dazu:

„Es gibt kein Tier auf der Erde und keinen Vogel, der mit seinen Flügeln fliegt, die nicht Gemeinschaften wären gleich euch. Wir haben im Buch nichts vernachlässigt.“ (6:38)

Selbst jedes Blatt, das von einem Baum fällt, entgeht nicht Seinem Wissen. Bei Allah sind die Schlüssel des Verborgenen – niemand kennt sie außer Ihm.

2. Das Schreiben (Al-Kitāba)

Allah erschuf einen Stift und befahl ihm, 50.000 Jahre vor der Schöpfung alles aufzuschreiben, was geschehen wird. Dieses Wissen wurde in Al-Lawh Al-Mahfūdh (der wohlbewahrten Tafel) verzeichnet.

„Kein Unglück trifft ein auf der Erde oder bei euch selbst, ohne dass es in einem Buch verzeichnet wäre, bevor Wir es erschaffen. Gewiss, das ist Allah ein Leichtes.“ (57:22)

Dabei gibt es vier verschiedene Ebenen des Aufschreibens:

  • Die ursprüngliche Niederschrift in Al-Lawh Al-Mahfūdh vor der Schöpfung
  • Im Mutterleib: Nach 120 Tagen kommt ein Engel und schreibt vier Dinge auf – die Versorgung, die Taten, die Lebensdauer und ob der Mensch glücklich oder unglücklich sein wird
  • Jährlich in der Nacht von Lailat Al-Qadr werden Angelegenheiten für das kommende Jahr festgelegt
  • Täglich befasst sich Allah mit Angelegenheiten, wie es in Sure 55:29 heißt

3. Der Wille (Al-Mashī’a)

Nichts geschieht außer durch den Willen Allahs. Hier unterscheidet man zwischen zwei Arten:

Irādat Al-Kawniyya (der Wille des Seins): Alles, was tatsächlich geschieht, geschieht durch diesen Willen – unabhängig davon, ob Allah es liebt oder nicht.

Irādat Ash-Shar’iyya (der Wille der Scharia): Das ist das, was Allah liebt und womit Er zufrieden ist.

Ein Beispiel: Allah erschuf den Schaitan (Satan). Liebt Allah den Schaitan? Nein. Wollte Er ihn erschaffen? Ja, durch Seinen Willen des Seins. Warum lässt Allah etwas zu, das Er nicht liebt? Weil es zu einem höheren Gut führt. Durch die Existenz des Schaitan gibt es Menschen, die gegen ihn ankämpfen, zur Da’wa aufrufen und andere zum Guten leiten.

4. Die Schöpfung (Al-Khalq)

Allah hat alle Geschöpfe und ihre Taten erschaffen:

„Und Allah hat euch erschaffen und das, was ihr tut.“ (37:96)

Das bedeutet nicht, dass du keine Verantwortung trägst – dazu gleich mehr.

Die Schlüsselfrage: Habe ich noch einen freien Willen?

Hier liegt der Kern vieler Missverständnisse. Die Antwort ist: Ja, du hast einen Willen und eine Wahl – auf einer Ebene, die über unsere vollständige Vorstellungskraft hinausgeht.

Allah hat den Geschöpfen eine eigene Wahl (Ikhtiyār) und eine eigene Fähigkeit (Qudra) gegeben, durch die Taten entstehen. Die Beweise dafür sind zahlreich:

Aus dem Koran:

  • „Kommt zu eurem Acker, wie ihr wollt“ (2:223) – Hier wird dem Menschen ein Wille zugesprochen
  • „Und hätten sie hinausgehen wollen, hätten sie dafür etwas vorbereitet“ (9:46) – Der Wille und die Vorbereitung werden dem Menschen zugeschrieben
  • „Allah erlegt keiner Seele auf, was sie nicht zu tragen vermag“ (2:286) – Wären wir gezwungen, würde uns etwas auferlegt, was wir nicht tragen können

Aus der Logik:

Du spürst den Unterschied zwischen freiwilligem Handeln und Gezwungensein. Wenn du die Treppe hinuntergehst, ist das etwas anderes, als wenn du die Treppe hinunterfällst. Dieses Bewusstsein ist in dir verankert.

Aus der Gerechtigkeit:

Allah lobt den, der Gutes tut, und tadelt den, der Schlechtes tut. Das wäre sinnlos, wenn wir wie Federn im Wind wären, die keinerlei Einfluss auf ihre Richtung hätten.

Wie Al-Qadar zur Medizin für dich wird

Das Wissen über die Vorherbestimmung soll für dich drei Funktionen erfüllen:

1. Schutz vor Verzweiflung

Wenn etwas Negatives passiert – du verpasst einen Job, eine Beziehung scheitert, ein Projekt funktioniert nicht – dann sagst du: „Wer weiß, wofür es gut ist?“

Denk an die Geschichte aus Sure 18: Die Eltern des getöteten Jungen werden ihr Leben lang an ihn denken und trauern. Aber am Jüngsten Tag werden sie erkennen, dass sein früher Tod sie vor größerem Unglück bewahrt hat. Vielleicht rettet dich eine verpasste Gelegenheit vor einem größeren Schaden. Ein Mann verpasste vor Jahren sein Flugzeug nach Saudi-Arabien und dachte, er würde seinen Job verlieren – das Flugzeug stürzte ab.

2. Schutz vor Hochmut

Wenn du Gutes tust und im Gehorsam gegenüber Allah bist, erkennst du: Das war nur möglich durch Allahs Willen und Seine Schöpfung. Du wirst bescheiden, statt hochmütig zu werden.

3. Schutz vor Irrtum im Glauben

Das richtige Verständnis von Al-Qadar bewahrt dich vor falschen Konzepten über Allah und führt dich zum ausgeglichenen, islamischen Verständnis.

Häufige Einwände und ihre Antworten

„Warum ist das Leben ein Test, wenn Allah doch schon weiß, wer ins Paradies kommt?“

Allah wusste schon immer, wer ins Paradies und wer in die Hölle gehen wird – das stimmt. Aber der Test ist nicht für Allah, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Der Test ist für dich, damit deine Taten offenbar werden.

Wenn im Koran steht „damit Allah weiß“, ist damit gemeint: „Damit Allah kenntlich macht.“ Sein Wissen des Verborgenen wird zum Wissen des Offenbaren, wenn die Tat geschieht. Der Test etabliert die Gerechtigkeit – niemand kann am Jüngsten Tag sagen: „Ich hätte anders gehandelt.“

„Warum hat Allah Menschen erschaffen, von denen Er wusste, dass sie in die Hölle gehen?“

Diese Frage kommt oft von Nicht-Muslimen oder sogar Christen. Die Antwort ist einfach: Frag sie zurück! Wenn ein Christ das fragt, sag: „Wusste der Vater (gemeint ist Gott in der christlichen Trinität), wer in die Hölle geht?“ Wenn er „Ja“ sagt, frag: „Warum hat er sie dann erschaffen?“

Entweder sagt er, Gott wusste es nicht – dann hat er Gott beleidigt. Oder er sagt, Gott wusste es – dann hat er keine Antwort. Im Islam haben wir das perfekte Konzept:

  • Allah ist nicht verpflichtet, jemanden vor der Hölle zu retten, wenn dieser Mensch durch seine eigenen Taten dorthin geht
  • Allah tut, was Er will – Er ist nicht gezwungen, jemanden nicht zu erschaffen
  • Die Bestrafung manifestiert Allahs Gerechtigkeit
  • Wer bestraft wird, hat die Bestrafung durch seine eigenen Taten verdient

„Wenn Allah alles erschaffen hat, warum bin ich dann verantwortlich?“

Weil Allah dir auf einer Ebene, die über unsere vollständige Vorstellungskraft hinausgeht, eine echte Wahl gegeben hat. Das Böse, das geschieht, wird Allah nicht zugeschrieben – es wird dem Täter zugeschrieben. In der Morgendämmerung-Sure heißt es:

„Ich suche Zuflucht beim Herrn der Morgenröte vor dem Übel dessen, was Er erschaffen hat.“ (113:1-2)

Allah hat das Übel erschaffen, aber es wird Ihm nicht zugeschrieben. Der Mensch trägt die Verantwortung für seine Sünden.

Warum Al-Qadar über unsere Vorstellungskraft geht

Die vier Stufen der Vorherbestimmung haben alle mit den Eigenschaften Allahs zu tun – mit Seinem Wissen, Seinem Willen, Seiner Schöpfung. Diese Eigenschaften sind über unsere Vorstellungskraft. Kein Mensch kann sich wirklich vorstellen, dass jemand schon immer alles wusste, nie etwas vergessen hat und sogar weiß, was nicht geschehen ist und wie es gewesen wäre, wenn es geschehen wäre.

Deshalb sagt der Gelehrte: „Al-Qadar ist ein Geheimnis Allahs – versuche nicht, es vollständig offenzulegen.“ Das bedeutet nicht, dass wir nichts darüber wissen können, sondern dass wir akzeptieren müssen: Manche Dimensionen dieses Konzepts liegen jenseits unserer vollständigen Erfassung.

Praktische Konsequenzen für dein Leben

Was Al-Qadar NICHT bedeutet:

  • Du darfst Al-Qadar nicht als Ausrede für deine Sünden benutzen. Wenn du etwas Falsches machst, ist es dein Fehler, nicht der Fehler von Al-Qadar
  • Du darfst nicht sagen: „Ich muss mich nicht anstrengen, es ist ja eh alles vorherbestimmt“
  • Du darfst Al-Qadar nicht benutzen, um Faulheit zu rechtfertigen

Was Al-Qadar bedeutet:

  • Wenn etwas außerhalb deiner Kontrolle schiefgeht, vertraust du auf Allah und sagst: „Wer weiß, wofür es gut ist“
  • Du machst Du’a (Bittgebete), weil Allah wusste, dass du Du’a machen würdest, und die Erhörung Teil Seiner Vorherbestimmung ist
  • Du unternimmst die Ursachen und vertraust dann auf Allah für das Ergebnis
Der Glaube
an die Propheten

Alle Propheten gehörten der Religion des Islam an: Die vollständige Unterwerfung unter den Willen Allahs.